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vermuthet; besonders muß er die Bücher der Rhetorik und Moral studiren. Man sollte zwar denken, diese Aufschlüsse müßten die Scholastiker, welche die Schriften des Aristote: les an den Fingern wußten, längst gefunden haben. Doch die Dichtkunst war gerade diejenige von seinen Schriften, um die sie sich am wenigsten bekümmerten. Dabei fehlten ihnen andere Kenntnisse, ohne welche jene Aufschlüsse we nigstens nicht fruchtbar werden konnten; sie kannten das Theater und die Meisterstücke desselben nicht.

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sich schon durch irgend eine Schwachheit zugezogen, seine | gequälte Unschuld, oder vielmehr seine zu hart heimgesuchte Schuld, sey für uns verloren, sey nicht vermögend, unser Mitleid zu erregen, wenn wir keine Möglichkeit sähen, daß uns sein Leiden auch treffen könne. Diese Möglichkeit aber finde sich alsdann, und könne zu einer großen Wahrscheinlichkeit erwachsen, wenn ihn der Dichter nicht schlimmer mache, als wir gemeiniglich zu seyn pflegen, wenn er ihn vollkommen so denken und handeln lasse, als wir in seinen Umständen würden gedacht und gehandelt haben, oder wenigstens glauben, daß wir hätten denken und handeln müssen: kurz, wenn er ihn mit uns von gleichem Schrot und Korne schildere. Aus dieser Gleichheit entstehe die Furcht, daß unser Schicksal gar leicht dem seinigen eben so ähnlich werden könne, als wir ihm zu seyn uns selbst fühlen, und diese Furcht sey es, welche das Mitleid gleichsam zur Reife

Die authentische Erklärung dieser Furcht, welche Ariftoteles dem tragischen Mitleid beifügt, findet sich in dem fünften und achten Capitel des zweiten Buchs seiner Rhetorit. Es war gar nicht schwer, sich dieser Capitel zu er innern; gleichwohl hat sich vielleicht keiner seiner Ausleger ihrer erinnert, wenigstens hat keiner den Gebrauch davon gemacht, der sich davon machen läßt. Denn auch die, welche ohne sie einsahen, daß diese Furcht nicht das mitbringe. leidige Schrecken sey, hätten noch ein wichtiges Stück aus ihnen zu lernen gehabt: die Ursache nämlich, warum der Stagirit dem Mitleid hier die Furcht, und warum nur die Furcht, warum keine andere Leidenschaft, und warum nicht mehrere Leidenschaften, beigesellt habe. Von dieser Ursache wissen sie nichts, und ich möchte wohl hören, was sie aus ihrem Kopfe antworten würden, wenn man sie fragte: warum 3. E. die Tragödie nicht eben so wohl Mitleid und Bewunderung, als Mitleid und Furcht, erregen könne und dürfe?

Es beruht aber alles auf dem Begriffe, den sich Aristoteles von dem Mitleid gemacht hat. Er glaubte nåmlich, daß das Uebel, welches der Gegenstand unsers Mitleidens werden solle, nothwendig von der Beschaffenheit | seyn müsse, daß wir es auch für uns selbst oder für eines von den Unsrigen zu befürchten hätten. Wo diese Furcht nicht sey, könne auch kein Mitleiden Statt finden. Denn weder der, den das Unglück so tief herabgedrückt habe, daß er weiter nichts für sich zu fürchten sähe, noch der, welcher sich so vollkommen glücklich glaube, daß er gar nicht begreife, woher ihm ein Unglück zustoßen könne, weder der Verzweifelnde noch der Uebermüthige pflege mit Andern Mitleid zu haben. Er erklärte daher auch das Fürchterliche und das Mitleidswürdige, eines durch das andere. Alles das, sagt er, ist uns fürchterlich, was, wenn es einem andern begegnet wäre oder begegnen sollte, unser Mitleid erwecken würde: 1 und alles das finden wir mitleidswürdig, was wir fürchten würden, wenn es uns selbst bevorstünde. Nicht genug also, daß der Unglückliche, mit dem wir Mitleiden haben sollen, sein Unglück nicht verdiene, ob er es

1 Ὡς δ' άπλως εἶπειν, φοβερα ἐςιν, ὅσα ἐφ' ἑτερων γιγνομέγα, ἢ μελλοντα, ἐλεεινα ἐςιν. So weiß nit, was bem gemis lius Portus (in seiner Ausgabe der Rhetorik, Spirae 1598) eingekommen ist, dieses zu übersezen: Denique ut simpliciter loquar, formidabilia sunt, quaecunque simulac in aliorum potestatem venerunt, vel ventura sunt, miseranda sunt. Es muß schlechtweg heißen: quaecunque aliis evenerunt, vel eventura sunt.

So dachte Aristoteles von dem Mitleiden und nur hieraus wird die wahre Ursache begreiflich, warum er in der Erklärung der Tragödie, nächst dem Mitleiden, nur die einzige Furcht nannte. Nicht als ob diese Furcht hier eine besondere von dem Mitleiden unabhängige Leidenschaft sey, welche bald mit bald ohne dem Mitleid, so wie das Mitleid bald mit bald ohne ihr erregt werden könne; welches die Mißdeutung des Corneille war: sondern weil, nach seiner Erklärung des Mitleids, dieses die Furcht nothwendig einschließt; weil nichts unser Mitleid erregt, als was zugleich unsere Furcht erwecken kann.

Corneille batte seine Stücke schon alle geschrieben, als er sich hinfeßte, über die Dichtkunst des Aristoteles zu commentiren. Er hatte funfzig Jahre für das Theater gearbeitet, und nach dieser Erfahrung würde er uns unstreitig vortreffliche Dinge über den alten dramatischen Coder haben sagen können, wenn er ihn nur auch während der Zeit seiner Arbeit fleißiger zu Rathe gezogen hätte. Allein dieses scheint er höchstens nur in Absicht auf die mechanischen Regeln der Kunst gethan zu haben. In den wesentlichern ließ er sich um ihn unbekümmert, und als er am Ende fand, daß er wider ihn verstoßen, gleichwohl nicht wider ihn verstoßen haben wollte: so suchte er sich durch Auslegungen zu helfen, und ließ seinen vorgeblichen Lehrmeister Dinge sagen, an die er offenbar nie gedacht hatte.

Corneille hatte Märtyrer auf die Bühne gebracht, und sie als die vollkommensten untadelhaftesten Personen geschildert; er hatte die abscheulichsten Ungeheuer in dem Prusias, in dem Phokas, in der Kleopatra aufgeführt: und von beiden Gattungen behauptet Aristoteles, daß sie zur Tragödie unschicklich wären, weil beide weder Mitleid

1 Je hazarderai quelque chose sur cinquante ans de travail pour la scène, sagt er in seiner Abhandlung über das Drama. Sein erstes Stück, Melite, war von 1625, und sein leztes, Surena, von 1675, welches gerade die funfzig Jahre ausmacht, so daß es gewiß ist, daß er, bei den Auslegungen des Aristoteles, auf alle seine Stücke ein Auge haben konnte und hatte.

noch Furcht erwecken könnten. Was antwortet Corneille hierauf? Wie fängt er es an, damit bei diesem Widerspruche weder sein Ansehen, noch das Ansehen des Aristo: teles leiden möge? „D, sagt er, mit dem Aristoteles ,,können wir uns hier leicht vergleichen. 1 Wir dürfen nur ,,annehmen, er habe eben nicht behaupten wollen, daß „beide Mittel zugleich, sowohl Furcht als Mitleid, nöthig ,,wären, um die Reinigung der Leidenschaften zu bewirken, „die er zu dem leßten Endzwecke der Tragödie macht: son „dern nach seiner Meinung sey auch eines zureichend. — „Wir können diese Erklärung, fährt er fort, aus ihm selbst „bekräftigen, wenn wir die Gründe recht erwägen, welche „er von der Ausschließung derjenigen Begebenheiten, die ,,er in den Trauerspielen mißbilligt, giebt. Er sagt nie ,,mals: dieses oder jenes schickt sich in die Tragödie nicht, ,, weil es bloß Mitleiden und keine Furcht erweckt; oder „dieses ist daselbst unerträglich, weil es bloß die Furcht ,,erweckt, ohne das Mitleid zu erregen. Nein; sondern er „verwirft sie deßwegen, weil sie, wie er sagt, weder Mit„leid noch Furcht zuwege bringen, und giebt uns dadurch ,,zu erkennen, daß sie ihm deßwegen nicht gefallen, weil „ihnen sowohl das eine als das andere fehlt, und daß er ,,ihnen seinen Beifall nicht versagen würde, wenn sie nur ,,eines von beiden wirkten.“

Sechsundsiebzigstes Stück.

Den 22. Januar 1768.

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Aber das ist grundfalsch! — Ich kann mich nicht genug wundern, wie Dacier, der doch sonst auf die Verdrehungen ziemlich aufmerksam war, welche Corneille von dem Terte des Aristoteles zu seinem Besten zu machen suchte, diese größte von allen übersehen können. Zwar, wie konnte er sie nicht übersehen, da es ihm nie einkam, des Philosophen Erklärung vom Mitleid zu Rathe zu ziehen? Wie ge sagt, es ist grundfalsch, was sich Corneille einbildet. Aristoteles kann das nicht gemeint haben, oder man müßte glauben, daß er seine eigenen Erklärungen vergessen kön nen, man müßte glauben, daß er sich auf die handgreiflichste Weise widersprechen können. Wenn, nach seiner Lehre, kein Uebel eines andern unser Mitleid erregt, was wir nicht für uns selbst fürchten: so konnte er mit keiner Handlung in der Tragödie zufrieden seyn, welche nur Mits leid und keine Furcht erregt; denn er hielt die Sache selbst für unmöglich; dergleichen Handlungen existirten ihm nicht; sondern sobald sie unser Mitleid zu erwecken fähig wären, glaubte er, müßten sie auch Furcht für uns erweden; oder vielmehr, nur durch diese Furcht erweckten sie Mitleid. Noch weniger konnte er sich die Handlung einer Tragödie vorstellen, welche Furcht für uns erregen könne, ohne zugleich unser Mitleid zu erwecken: denn er war überzeugt, daß alles, was uns Furcht für uns selbst errege, auch unser

Il est aisé de nous accommoder avec Aristote etc.

Mitleid erwecken müsse, sobald wir andere damit bedroht oder betroffen erblickten; und das ist eben der Fall der Tra gödie, wo wir alle das Uebel, welches wir fürchten, nicht uns, sondern andern begegnen sehen.

Es ist wahr, wenn Aristoteles von den Handlungen spricht, die sich in die Tragödie nicht schicken, so bedient er sich mehrmalen des Ausdrucs von ihnen, daß sie weder Mitleid noch Furcht erwecken. Aber desto schlimmer, wenn sich Corneille durch dieses weder noch verführen lassen. Diese disjunctive Partiteln involviren nicht immer, was er sie involviren läßt. Denn wenn wir zwei oder mehrere Dinge von einer Sache durch sie verneinen, so kömmt es darauf an, ob sich diese Dinge eben so wohl in der Natur von einander trennen lassen, als wir sie in der Abstraction und durch den symbolischen Ausdruck trennen können, wenn die Sache dem ungeachtet noch bestehen soll, ob ihr schon das eine oder das andere von diesen Dingen fehlt. Wenn wir 3. E. von einem Frauenzimmer sagen, sie sey weder schön noch wizig: so wollen wir allerdings sagen, wir würden zufrieden seyn, wenn sie auch nur eins von beiden wäre; denn Wiß und Schönheit lassen sich nicht bloß in Gedanken trennen, sondern sie sind wirklich getrennt. Aber wenn wir sagen, dieser Mensch glaubt weder Himmel noch Hölle: wollen wir damit auch sagen, daß wir zufrieden seyn würden, wenn er nur eins von beiden glaubte, wenn er nur den Himmel und keine Hölle, oder nur die Hölle und keinen Himmel glaubte? Gewiß nicht: denn wer das eine glaubt, muß nothwendig auch das andere glauben; Himmel und Hölle, Strafe und Belohnung sind relativ; wenn das eine ist, ist auch das andere. Oder, um mein Exempel aus einer verwandten Kunst zu nehmen: wenn wir sagen, dieses Gemälde taugt nichts, denn es hat weder Zeichnung noch Colorit; wollen wir damit sagen, daß ein gutes Gemälde sich mit einem von beiden begnügen könne? Das ist so klar!

Allein, wie, wenn die Erklärung, welche Aristoteles von dem Mitleiden giebt, falsch wäre? Wie, wenn wir auch mit Uebeln und Unglüdsfällen Mitleid fühlen könn ten, die wir für uns selbst auf keine Weise zu besorgen haben?

Es ist wahr: es braucht unserer Furcht nicht, um Unlust über das physikalische Uebel eines Gegenstandes zu empfinden, den wir lieben. Diese Unluft entsteht bloß aus der Vorstellung der Unvollkommenheit, so wie unsere Liebe aus der Vorstellung der Vollkommenheiten desselben; und aus dem Zusammenflusse dieser Lust und Unluft entspringt die vermischte Empfindung, welche wir Mitleid nennen.

Jedoch auch sonach glaube ich nicht, die Sache des Aristoteles nothwendig aufgeben zu müssen.

Denn, wenn wir auch schon, ohne Furcht für uns selbst, Mitleid für andere empfinden können: so ist es doch unstreitig, daß unser Mitleid, wenn jene Furcht dazu kömmt, weit lebhafter und stärker und anzüglicher wird,

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als es ohne sie seyn kann. Und was hindert uns, anzunehmen, daß die vermischte Empfindung über das physikalische Uebel eines geliebten Gegenstandes, nur allein durch die dazu kommende Furcht für uns, zu dem Grade erwächst, in welchem sie Affect genannt zu werden verdient?

Aristoteles hat es wirklich angenommen. Er betrachtet das Mitleid nicht nach seinen primitiven Regungen, er be trachtet es bloß als Affect. Ohne jene zu verkennen, verweigert er nur dem Funken den Namen der Flamme. Mitleidige Regungen, ohne Furcht für uns selbst, nennt er Philanthropie, und nur den stärkern Regungen dieser Art, welche mit Furcht für uns selbst verknüpft sind, giebt er den Namen des Mitleids. Also behauptet er zwar, daß das Unglück eines Bösewichts weder unser Mitleid noch unsere Furcht errege: aber er spricht ihm darum nicht alle Rührung ab. Auch der Bösewicht ist noch Mensch, ist noch ein Wesen, das bei allen seinen moralischen Unvollkommenheiten, Vollkommenheiten genug behält, um sein Ver derben, seine Zernichtung lieber nicht zu wollen, um bei dieser etwas mitleidähnliches, die Elemente des Mitleids gleichsam, zu empfinden. Aber, wie schon gesagt, diese mitleidähnliche Empfindung nennt er nicht Mitleid, son dern Philanthropie. Man muß, sagt er, keinen Böses ,,wicht aus unglücklichen Umständen in glückliche gelangen lassen; denn das ist das untragischste, was nur seyn „kann; es hat nichts von allem, was es haben sollte; es „erweckt weder Philanthropie, noch Mitleid, noch Furcht. Auch muß es kein völliger Bösewicht seyn, der aus glücklichen Umständen in unglückliche verfällt; denn eine der "gleichen Begebenheit kann zwar Philanthropie, aber weder Mitleid noch Furcht erwecken." Jch kenne nichts kahleres und abgeschmackteres, als die gewöhnlichen Uebersezungen dieses Wortes Philanthropie. Sie geben nämlich das Adjectivum davon im Lateinischen durch hominibus gratum; im Französischen durch ce que peut faire quelque plaisir; und im Deutschen durch was Vergnügen machen. tann." Der einzige Goulston, so viel ich finde, scheint den Sinn des Philosophen nicht verfehlt zu haben, indem er das pidavłownov durch quod humanitatis sensu tangat überseßt. Denn allerdings ist unter dieser Philan: thropie, auf welche das Unglüd auch eines Bösewichts Anspruch macht, nicht die Freude über seine verdiente Bestrafung, sondern das sympathetische Gefühl der Menschlichkeit zu verstehen, welches, troß der Vorstellung, daß sein Leiden nichts als Verdienst sey, dennoch in dem Augenblicke des Leidens in uns sich für ihn regt. Herr Curtius will zwar diese mitleidigen Regungen für einen unglücklichen Bösewicht nur auf eine gewisse Gattung der ihn treffenden Uebel einschränken. Solche Zufälle des Laster: „haften, sagt er, die weder Schrecken noch Mitleid in uns wirken, müssen Folgen seines Lasters seyn: denn treffen

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,,lichkeit, als welche auch einem unschuldig leidenden Gott ,,losen ihr Mitleid nicht versagt." Aber er scheint dieses nicht genug überlegt zu haben. Denn auch dann noch, wenn das Unglück, welches den Bösewicht befällt, eine unmittelbare Folge seines Verbrechens ist, können wir uns nicht entwehren, bei dem Anblicke dieses Unglücks mit ihm zu leiden.

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,,Seht jene Menge," sagt der Verfasser der Briefe über die Empfindungen, die sich um einen Verurtheilten „in dichte Haufen drängt. Sie haben alle Greuel vernom„men, die der Lasterhafte begangen; sie haben seinen Wandel und vielleicht ihn selbst verabscheut. Jezt schleppt man „ihn entstellt und ohnmächtig auf das entseßliche Schau„gerüst. Man arbeitet sich durch das Gewühl, man stellt ,sich auf die Zehen, man klettert die Dächer hinan, um ,,die Züge des Todes sein Gesicht entstellen zu sehen. Sein ,Urtheil ist gesprochen; sein Henker naht sich ihm; ein , Augenblick wird sein Schicksal entscheiden. Wie sehnlich wünschen jezt aller Herzen, daß ihm verziehen würde! Jhm? dem Gegenstande ihres Abscheues, den sie einen Augenblick vorher selbst zum Tode verurtheilt haben wür den? Wodurch wird jezt ein Strahl der Menschenliebe ,,wiederum bei ihnen rege? Ist es nicht die Annäherung der Strafe, der Anblick der entseglichsten physikalischen ,,Uebel, die uns sogar mit einem Ruchlosen gleichsam aus: „söhnen und ihm unsere Liebe erwerben? Ohne Liebe könn ,,ten wir unmöglich mitleidig mit seinem Schicksale seyn."

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Und eben diese Liebe, sage ich, die wir gegen unsern Nebenmenschen unter keinerlei Umständen ganz verlieren können, die unter der Asche, mit welcher sie andere stärtere Empfindungen überdecken, unverlöschlich fortglimmt, und gleichsam nur einen günstigen Windstoß von Unglück und Schmerz und Verderben erwartet, um in die Flamme des Mitleids auszubrechen; eben diese Liebe ist es, welche Aristoteles unter dem Namen der Philanthropie versteht. Wir haben Recht, wenn wir sie mit unter dem Namen des Mitleids begreifen. Aber Aristoteles hatte auch nicht Unrecht, wenn er ihr einen eigenen Namen gab, um sie, wie gesagt, von dem höchsten Grade der mitleidigen Empfindungen, in welchem sie durch die Dazukunft einer wahrscheinlichen Furcht für uns selbst Affect werden, zu unters scheiden.

Siebenundsiebzigstes Stück.

Den 26. Januar 1768.

Einem Einwurfe ist hier noch vorzukommen. Wenn Aristoteles diesen Begriff von dem Affecte des Mitleids hatte, daß er nothwendig mit der Furcht für uns selbst verknüpft seyn müsse: was war es nöthig, der Furcht noch insbesondere zu erwähnen? Das Wort Mitleid schloß sie schon in sich, und es wäre genug gewesen, wenn er bloß Re ihn zufällig, oder wohl gar unschuldig, so behält er gesagt hätte: die Tragödie soll durch Erregung des Mit„in dem Herzen der Zuschauer die Vorrechte der Mensch- | leids die Reinigung unserer Leidenschaft bewirken. Denn

der Zusaß der Furcht sagt nichts mehr, und macht das, was er sagen soll, noch dazu schwankend und ungewiß.

Jch antworte: wenn Aristoteles uns bloß hätte lehren wollen, welche Leidenschaften die Tragödie erregen könne und solle, so würde er sich den Zusaß der Furcht allerdings haben ersparen können und ohne Zweifel sich wirklich erspart haben; denn nie war ein Philosoph ein größerer Wortsparer als er. Aber er wollte uns zugleich lehren, welche Leidenschaften durch die in der Tragödie erregten in uns gereinigt werden sollten; und in dieser Absicht mußte er der Furcht insbesondere gedenken. Denn obschon, nach ihm, der Affect des Mitleids weder in noch außer dem Theater ohne Furcht für uns selbst seyn kann; ob sie schon ein nothwendiges Ingredienz des Mitleids ist: so gilt dieses doch nicht auch umgekehrt, und das Mitleid für andere ist tein Ingredienz der Furcht für uns selbst. Sobald die Tragödie aus ist, hört unser Mitleid auf, und nichts bleibt von allen den empfundenen Regungen in uns zurück, als die wahrscheinliche Furcht, die uns das bemitleidete Uebel für uns selbst schöpfen lassen. Diese nehmen wir mit; und so wie sie, als Ingredienz des Mitleids, das Mitleid reini gen helfen, so hilft sie nun auch, als eine für sich fortdauernde Leidenschaft, sich selbst reinigen. Folglich, um anzuzeigen, daß sie dieses thun könne und wirklich thue, fand es Aristoteles für nöthig, ihrer insbesondere zu ges denken.

Es ist unstreitig, daß Aristoteles überhaupt keine strenge logische Definition von der Tragödie geben wollen. Denn ohne sich auf die bloß wesentlichen Eigenschaften derselben einzuschränken, hat er verschiedene zufällige hineingezogen, weil sie der damalige Gebrauch nothwendig gemacht hatte. Diese indeß abgerechnet und die übrigen Merkmale in einander reducirt, bleibt eine vollkommen genaue Erklärung übrig: die nämlich, daß die Tragödie, mit einem Worte, ein Gedicht ist, welches Mitleid erregt. Ihrem Geschlechte nach ist sie die Nachahmung einer Handlung; so wie die Epopee und die Komödie: ihrer Gattung aber nach die Nachahmung einer mitleidswürdigen Handlung. Aus diesen beiden Begriffen lassen sich vollkommen alle ihre Regeln herleiten: und sogar ihre dramatische Form ist daraus zu bestimmen.

An dem leßtern dürfte man vielleicht zweifeln. Wenigstens wüßte ich keinen Kunstrichter zu nennen, dem es nur eingekommen wäre, es zu versuchen. Sie nehmen alle die dramatische Form der Tragödie als etwas Hergebrachtes an, das nun so ist, weil es einmal so ist, und das man so läßt, weil man es gut findet. Der einzige Aristoteles hat die Ursache ergründet, aber sie bei seiner Erklärung mehr vorausgesezt, als deutlich angegeben. „Die Tragödie, ,,sagt er, ist die Nachahmung einer Handlung die nicht ,,vermittelst der Erzählung, sondern vermittelst des Mit,,leids und der Furcht die Reinigung dieser und dergleichen ,,Leidenschaften bewirkt." So drückt er sich von Wort zu

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Wort aus. Wem sollte hier nicht der sonderbare Gegenfat: nicht vermittelst der Erzählung, sondern vermittelst „des Mitleids und der Furcht," befremden? Mitleid und Furcht sind die Mittel, welche die Tragödie braucht, um ihre Absicht zu erreichen: und die Erzählung kann sich nur auf die Art und Weise beziehen, sich dieser Mittel zu be dienen, oder nicht zu bedienen. Scheint hier also Aristoteles nicht einen Sprung zu machen? Scheint hier nicht offenbar der eigentliche Gegensaß der Erzählung, welches die dramatische Form ist, zu fehlen? Was thun aber die Uebersezer bei dieser Lüde? Der eine umgeht sie ganz be hutsam, und der andere füllt sie, aber nur mit Worten. Alle finden weiter nichts darin, als eine vernachlässigte Wortfügung, an die sie sich nicht halten zu dürfen glauben, wenn sie nur den Sinn des Philosophen liefern. Dacier überseßt: d'une action — qui, sans le secours de la narration, par le moyen de la compassion et de la terreur u. s. m.; und Curtius: „einer Handlung, welche nicht durch die Erzählung des Dichters, sondern (durch Vorstellung der Handlung selbst) uns vermittelst des Schreckens und Mitleids von den Fehlern der vorgestellten Leidenschaften reinigt." D, sehr recht! Beide sagen, was Aristoteles sagen will, nur daß sie es nicht so sagen, wie er es sagt. Gleichwohl ist auch an diesem Wie gelegen; denn es ist wirklich keine bloß vernachlässigte Wortfügung. Kurz, die Sache ist diese: Aristoteles bemerkte, daß das Mitleid nothwendig ein vorhandenes Uebel erfordere; daß wir längst vergangene oder fern in der Zukunft bevorstehende Uebel entweder gar nicht, oder doch bei weitem nicht so stark bemitleiden können, als ein anwesendes; daß es folglich nothwendig sey, die Handlung, durch welche wir Mitleid erregen wollen, nicht als vergangen, das ist, nicht in der erzählenden Form, sondern als gegenwärtig, das ist, in der dramatischen Form, nachzuahmen. Und nur dieses, daß unser Mitleid durch die Erzählung wenig oder gar nicht, sondern fast einzig und allein durch die gegen: wärtige Anschauung erregt wird, nur dieses berechtigte ihn, in der Erklärung anstatt der Form der Sache die Sache gleich selbst zu sezen, weil diese Sache nur dieser einzigen Form fähig ist. Hätte er es für möglich gehalten, daß unser Mitleid auch durch die Erzählung erregt werden könne: so würde es allerdings ein sehr fehlerhafter Sprung gewesen seyn, wenn er gesagt hätte, „nicht durch die Er | zählung, sondern durch Mitleid und Furcht.“ Da er aber überzeugt war, daß Mitleid und Furcht in der Nachahmung nur durch die einzige dramatische Form zu erregen sey: so konnte er sich diesen Sprung der Kürze wegen erlauben. Ich verweise deßfalls auf das nämliche neunte Kapitel des zweiten Buchs seiner Rhetorik. 1

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1 Επει δ' εγγυς φαινόμενα τα πάθη, ἐλεεινα εἰσι, τα δε μυριοςον έτος γενομενα, ή εσομενα, οὔτ ̓ ἐλπιζοντες, ούτε με μνημενοι, ή όλως ουκ ἐλεουσιν, ἢ οὐχ ̓ ὁμοιως ἀναγκη τους συναπεργαζομενους σχήμασι και φωναῖς, καὶ ἐσθητι, και όλως τῇ ὑποκρίσει, ἐλλεεινότερους εἶναι.

Was endlich den moralischen Endzweck anbelangt, welchen Aristoteles der Tragödie giebt, und den er mit in die Erklärung derselben bringen zu müssen glaubte, so ist be kannt, wie sehr besonders in den neuern Zeiten darüber geftritten worden. Ich getraue mich aber zu erweisen, daß alle, die sich dawider erklärt, den Aristoteles nicht verstanden haben. Sie haben ihm alle ihre eigene Gedanken unter: geschoben, ehe sie gewiß wußten, welches seine wären. Sie bestreiten Grillen, die sie selbst gefangen, und bilden sich ein, wie unwidersprechlich sie den Philosophen widerlegen, indem sie ihr eigenes Hirngespinnste zu Schanden machen. Ich kann mich in die nähere Erörterung dieser Sache hier nicht einlassen. Damit ich jedoch nicht ganz ohne Beweis zu sprechen scheine, will ich zwei Anmerkungen machen.

einer mitleidswürdigen Handlung insbesondere ist. Bessern sollen uns alle Gattungen der Poesie: es ist kläglich, wenn man dieses erst beweisen muß; noch kläglicher ist es, wenn es Dichter giebt, die selbst daran zweifeln. Aber alle Gat: tungen können nicht alles bessern; wenigstens nicht jedes so vollkommen, wie das andere; was aber jede am vollkom mensten bessern kann, worin es ihr keine andere Gattung gleich zu thun vermag, das allein ist ihre eigentliche Bes stimmung.

Achtundsiebzigstes Stück.

Den 29. Januar 1768.

2. Da die Gegner des Aristoteles nicht in Acht nah men, was für Leidenschaften er eigentlich durch das Mitleid und die Furcht der Tragödie in uns gereinigt haben wollte: so war es natürlich, daß sie sich auch mit der Reinigung selbst irren mußten. Aristoteles verspricht am Ende seiner Politik, wo er von der Reinigung der Leidenschaften durch die Musil redet, von dieser Reinigung in seiner Dicht kunft weitläuftiger zu handeln. Weil man aber, sagt Cor„neille, ganz und gar nichts von dieser Materie darin

1. Sie lassen den Aristoteles sagen,,, die Tragödie solle uns vermittelst des Schreckens und Mitleids von den Feh lern der vorgestellten Leidenschaften reinigen." Der vor gestellten? Also, wenn der Held durch Neugierde, oder Ehrgeiz, oder Liebe, oder Zorn, unglücklich wird: so ist es unsere Neugierde, unser Ehrgeiz, unsere Liebe, unser Zorn, welchen die Tragödie reinigen soll? Das ist dem Aristoteles nie in den Sinn gekommen. Und so haben die Herren, findet, so ist der größte Theil seiner Ausleger auf die Gegut streiten; ihre Einbildung verwandelt Windmühlen in Riesen; sie jagen in der gewissen Hoffnung des Sieges darauf los, und kehren sich an keinen Sancho, der weiter nichts als gesunden Menschenverstand hat, und ihnen auf jeinem bedächtlichern Pferde hinten nach ruft, sich nicht zu übereilen und doch nur erst die Augen recht aufzusperren. Tov tolovtov nadquarov, sagt Aristoteles; und das heißt nicht, der vorgestellten Leidenschaften; das hätten sie übersezen müssen durch dieser und dergleichen oder der erweckten Leidenschaften. Das rorovrov bezieht sich lediglich auf das vorhergehende Mitleid und Furcht; die Tragödie soll unser Mitleid und unsere Furcht erregen, bloß um diese und dergleichen Leidenschaften, nicht aber alle Leidenschaften ohne Unterschied zu reinigen. Er sagt aber ro1OUT OV und nicht zov7wv; er sagt dieser und dergleichen, und nicht Floß dieser: um anzuzeigen, daß er unter dem Mitleid nicht bloß das eigentlich sogenannte Mitleid, sondern überhaupt alle philanthropische Empfindungen, so wie unter der Furcht nicht bloß die Unlust über ein uns bevorstehendes Uebel, sondern auch jede damit verwandte Unlust, auch die Unlust über ein gegenwärtiges, auch die Unlust über ein vergan genes Uebel, Betrübniß und Gram, verstehe. In diesem ganzen Umfange soll das Mitleid und die Furcht, welche die Tragödie erweckt, unser Mitleid und unsere Furcht reinigen; aber auch nur diese reinigen und keine andere Leidenschaften. Zwar können sich in der Tragödie auch zur Reinigung der andern Leidenschaften nüßliche Lehren und Beispiele finden; doch sind diese nicht ihre Absicht; diese hat sie mit der Epopee und Komödie gemein, in so fern sie ein Gedicht, die Nachahmung einer Handlung überhaupt ist, nicht aber in so fern sie Tragödie, die Nachahmung

,,danken gerathen, daß sie nicht ganz auf uns gekommen sey." Gar nichts? Ich meines Theils glaube, auch schon in dem, was uns von seiner Dichtkunst noch übrig, es mag viel oder wenig seyn, alles zu finden, was er einem, der mit seiner Philosophie sonst nicht ganz unbekannt ist, über diese Sache zu sagen für nöthig halten konnte. Corneille selbst bemerkte eine Stelle, die uns, nach seiner Meinung, Licht genug geben könne, die Art und Weise zu entdecken, auf welche die Reinigung der Leidenschaften in der Tragödie geschehe: nämlich die, wo Aristoteles sagt, „das Mitleid verlange einen, der unverdient leide, und die Furcht einen unsers gleichen.“ Diese Stelle ist auch wirklich sehr wichtig, nur daß Corneille einen falschen Gebrauch davon machte, und nicht wohl anders als machen konnte, weil er einmal die Reinigung der Leidenschaften überhaupt im Kopfe hatte. ,,Das Mitleid mit dem Unglücke, sagt er, von welchem wir „unsers gleichen befallen sehen, erweckt in uns die Furcht, „daß uns ein ähnliches Unglück treffen könne; diese Furcht erweckt die Begierde, ihm auszuweichen; und diese Be"gierde ein Bestreben, die Leidenschaft, durch welche die „Person, die wir bedauern, sich ihr Unglück vor unsern „Augen zuzieht, zu reinigen, zu mäßigen, zu bessern, ja "gar auszurotten; indem einem jeden die Vernunft sagt, daß man die Ursache abschneiden müsse, wenn man die Wirkung vermeiden wolle." Aber dieses Raisonnement, welches die Furcht bloß zum Werkzeuge macht, durch welches das Mitleid die Reinigung der Leidenschaften bewirkt, ist falsch und kann unmöglich die Meinung des Aristoteles seyn; weil sonach die Tragödie gerade alle Leidenschaften reinigen könnte, nur nicht die zwei, die Aristoteles ausdrücklich durch sie gereinigt wissen will. Sie könnte unsern Zorn,

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