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Gotthold Ephraim Lessings

Leben des Sophokles.

1760.

Herausgegeben von Johann Joachim Eschenburg. Berlin, bei Christian Friedrich Voß und Sohn. 1790. kl. 8. Vorbericht des Herausgebers: Es sind jest gerade dreißig Jahr, als die sieben ersten Bogen der gegenwärtigen Schrift abgedruckt wurden. Was für ein Hinderniß es eigentlich gewesen sey, welches die Fortsezung dieses Abdrucks, oder vielmehr die weitere Ausarbeitung des Werkes selbst, unterbrach, weiß ich nicht mit Gewißheit anzugeben. Vermuthlich war es Lessing's Entfernung von Berlin, der um diese Zeit nach Breslau zu dem preussischen`General Tauenzien gieng, in den nächsten Jahren darauf als Schriftsteller nur seine Ueberseßung des Diderot'schen Theaters vollendete, und an den Litteraturbriefen Antheil nahm. Erst sechs Jahre später betrat er mit seinem Laokoon die schriftstellerische Laufbahn aufs neue. Sein Sophokles sollte aus vier Büchern bestehen, die wahrscheinlich auch eben so viel Bände gefüllt haben würden. Aber auch hier ist es ungewiß, welch einen Umfang er seinem Stoffe zu geben gedachte, und wie er denselben eigentlich zu vertheiten Willens war. Das erste Buch hatte er, wie die Aufschrift des ältern Titelblattes angiebt, dem Leben des Dichters bestimmt; und diesem sollte vermuthlich eine kritische Zergliederung seiner Schauspiele, und eine deutsche Uebersehung derselben in Profa nachfolgen. Dieß leßtere läßt sich wenigstens aus dem Anfangsfragmente res Ajar schließen, welches ich dem Leser am Schluß dieses Bändchens mittheilen werde. Lessing war, wie ich schon anderswo (f. den fünften. Beitrag zur Geschichte und Litteratur aus der Wolfenb. Bibl. S. 58.) bemerkt habe, von jeher gewohnt, seine Arbeiten erst während ihres Abdrucks zu vollenden, und diesen schon bei einigem, oft nur geringem, Vorrathe von Handschrift anfangen laffen. Ich hatte daher wenig Hoffnung, unter seinen für die gegenwärtige Arbeit nachgelassenen Papieren, deren Mittheilung ich der Freundschaft seines Bruders, des Herrn Münzdirektors Lessing, verdanke, viel Vollendetes anzutreffen. Und so war es auch wirklich. Nur den Schluß der Anmerkung (K.) die mit der 112ten und legten Seite des ehemaligen Drucks abgebrochen war, fand ich völlig ausgearbeitet und ins Reine geschrieben. Das Uebrige bestand aus lauter einzelnen Zetteln, die nur kurze Entwürfe und gesammelte Materialien zu den meisten, aber nicht einmal zu allen folgenden Anmerkungen enthielten, welche in den S. 6. bis 11. befindlichen Leben des Sophokles nachgewiesen waren, und in einem, vermuthlich ältern, Hefte, worin noch weniger ausgearbeitete Angaben und Winke zu eben diesen Anmerkungen, zerstreut und einzeln, nebst dem schon gedachten Anfang einer Uebersehung des Ajar Mastigophoros, niedergeschrieben waren. Verschiedene seiner Freunde, denen er die abgedruckten Bogen mitgetheilt hatte, die ich auch selbst seit mehreren Jahren aus seiner Hand besaß, versuchten es oft, ihn zur Fortseßung und Vollendung diefer so verdienstvollen Arbeit zu bewegen. Seine gewöhnliche Antwort aber war, er müsse erst wieder Griechisch lernen, und sich in eine Menge von Dingen hinein studiren, die ihm seitdem völlig fremd geworden wären. Sein Verleger und vieljähriger vertrauter Freund war zu gefällig, um von diesen abgedruckten Bogen irgend einen willkührlichen Gebräuch zu machen. Aber seit Leffing's Tode wurde der Wunsch ihrer Bekanntmachung bei denen, die von diesem Bruchstück wußten, und das Daseyn desselben aus einigen öffentlichen Erwähnungen erfahren hatten, immer dringender. Mir geschah also der Antrag, es herauszugeben; und ich hatte mehr als Einen Grund mich nicht an die Fortseßung, oder auch nur an die Ausarbeitung der noch vorhandenen Materialien zu wagen; sondern ich beschloß, diese so unvollendet, einzeln und mangelhaft, wie sie da waren, hinzu zu fügen, und so dem Fragmente wenigstens mehr Anschein eines Ganzen zu geben. Dieß zu thun, kostete freilich mehr Zeit, Sorgfalt und Mühe, als der erste Anblick dieser Ergänzung verrathen wirt; aber freundschaftlicher Eifer für des Verfassers Andenken, und Hinsicht auf dadurch zu bewirkende Befriedigung der Litteratoren, erleichterten mir alle Mühe gar sehr. 2c. 2c.

SOPHOKLES.

Erstes Buch.

Bayle, der in seinem kritischen Wörterbuche sowohl dem Ae= schylus, als dem Euripides einen besondern Artikel gewidmet hat, übergehet den Sophokles mit Stillschweigen. Verdiente Sophokles weniger gekannt zu werden? War weniger Merkwürdiges von ihm zu sagen, als von jenen seinen Mitbewerbern um den tragischen Thron?'

Gewiß nicht. Aber bey dem Aeschylus hatte Baylen, Stanley; bey dem Euripides hatte ihm Barnes vorgearbeitet. Diese Männer hatten für ihn gesammelt, für ihn berichtiget, für ihn verglichen. Voll Zuversicht auf seinen angenehmern Vortrag, sette er sich eigenmächtig in die Rechte ihres Fleißes. Und diesem Fleiße den Staub abzukehren, den Schweis abzutrocknen, ihn mit Blumen zu krönen: war seine ganze Arbeit. Eine leichte und angenehme Arbeit!

Hingegen, als ihn die Folge der Buchstaben auf den Sophokles brachte, vergebens sah er sich da nach einem Stanley oder Barnes um. Hier hatte ihm niemand vorgearbeitet. Hier mußte er selbst sammeln, berichtigen, vergleichen. Wäre es schon sein Werk gewesen, so erlaubte es ihm ist seine Zeit nicht: und Sophokles blieb weg.

Die nehmliche Entschuldigung muß man auch seinem Fortseßer, dem Herrn Chaufepié, leihen. Auch dieser fand noch keinen Vorarbeiter: und Sophokles blieb abermals weg.

Man gewinne aber einen alten Schriftsteller nur erst lieb, und die Lessing, sämmtl. Werke. VI.

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geringste Kleinigkeit, die ihn betrift, die einzige Beziehung auf ihn haben kann, höret auf, uns gleichgültig zu seyn. Seit dem ich es betauere, die Dichtkunst des Aristoteles eher studieret zu haben, als die Muster, aus welchen er sie abstrahierte: werde ich bey dem Namen Sophokles, ich mag ihn finden, wo ich will, aufmerksamer, als bey meinem eigenen. Und wie vielfältig habe ich ihn mit Vorsatz gesucht! Wie viel Unnüßes habe ich seinetwegen gelesen!

Nun denke ich: keine Mühe ist vergebens, die einem andern Mühe ersparen kann. Ich habe das Unnüße nicht unnüßlich gelesen, wenn es, von nun an, dieser oder jener nicht weiter lesen darf. Ich kann nicht bewundert werden; aber ich werde Dank verdienen. Und die Vorstellung, Dank zu verdienen, muß eben so angenehm seyn, als die Vorstellung bewundert zu werden: oder wir hätten keine Grammatiker, keine Litteratores.

Mit mehrerm Wortgepränge will ich dieses Leben meines Dichters nicht einführen. Wenn ein Kenner davon urtheilet, „Barnes würde es "gelehrter, Bayle würde es angenehmer geschrieben haben:" so hat mich der Kenner gelobt.

Leben des Sophokles.

Vor allen Dingen muß ich von meinen Quellen Rechenschaft geben (A). „Diesen zufolge war Sophokles von Geburt ein Athenienser, und „zwar ein Koloniate (B). Sein Vater hieß Sophilus (C). Nach „der gemeinsten und wahrscheinlichsten Meinung, ward er in dem zweyten „Jahre der ein und siebzigsten Olympias gebohren (D).

f

„Er genoß eine sehr gute Erziehung. Die Tanzkunst und die Musik lernte er bey dem Lamprus, und brachte es in dieser lettern, wie auch „im Ringen so weit, daß er in beiden den Preis erhielt (E). Er war „kaum sechzehn Jahr alt, als er mit der Leher um die Tropäen, welche „die Athenienser nach dem Salaminischen Siege errichteten, tanzte, und „den Lobgesang anstimmte. Und das zwar, nach einigen, nacket und ge„salbt; nach andern aber, bekleidet (F). In der tragischen Dichtkunst „soll Aeschylus sein Lehrer gewesen seyn; ein Umstand, an welchem ich „aus verschiedenen Gründen zweifle (G). Ist er unterdessen wahr, so hat „schwerlich ein Schüler das Uebertriebene seines Meisters, worauf die „Nachahmung immer am ersten fällt, besser eingesehen und glücklicher ver„mieden, als Sophokles. Ich sage dieses mehr nach der Vergleichung „ihrer Stücke, als nach einer Stelle des Plutarchs (H).

„Sein erstes Trauerspiel fällt in die sieben und siebzigste Olym„pias. Das sagt Eusebius, das sagt auch Plutarch: nur muß man „das Zeugniß dieses lettern recht verstehen; wie ich denn beweisen will, „daß man gar nicht nöthig hat, die vermeinte Verbesserung anzunehmen, "welche Samuel Petit darinn angegeben hat (I).

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