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III.

Aber, wie schon gedacht, die Kunst hat in den neuern Zeiten ungleich weitere Gränzen erhalten. Ihre Nachahmung, sagt man, erstrecke sich auf die ganze sichtbare Natur, von welcher das Schöne nur ein kleiner Theil ist. Wahrheit und Ausdruck sey jihr erstes Geseß; und wie die Natur selbst die Schönheit höhern Absichten jederzeit aufopfere, so müsse sie auch der Künstler seiner allgemeinen Be stimmung unterordnen, und ihr nicht weiter nachgehen, als es Wahrheit und Ausdruck erlauben. Genug, daß durch Wahrheit und Ausdruck das Häßlichste der Natur in ein Schönes der Kunst verwandelt werde.

Gesezt, man wollte diese Begriffe fürs erste unbestritten in ihrem Werthe oder Unwerthe lassen: sollten nicht andere von ihnen unabhängige Betrachtungen zu machen seyn, warum dem ungeachtet der Künstler in dem Ausdrucke Maaß halten, und ihn nie aus dem höchsten Punkte der Handlung nehmen müsse?

Ich glaube, der einzige Augenblick, an den die materiellen Schranken der Kunst alle ihre Nachahmungen binden, wird auf dergleichen Betrachtungen leiten.

Kann der Künstler von der immer veränderlichen Natur nie mehr als einen einzigen Augenblick, und der Maler hinsbesondere diesen einzigen Augenblick auch nur aus einem einzigen Gesichtspunkte brauchen; sind aber ihre Werke gemacht, nicht bloß erblickt, sondern betrachtet zu werden, lange und wiederholtermaßen betrachtet zu werden: so ist es gewiß, daß jener einzige Augenblick und einzige Gesichtspunkt dieses einzigen Augenblickes nicht fruchtbar genug gewählt werden kann. Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können. Je mehr wir dazu denken, desto

mand hatte mehr Recht, wegen eines solchen Geschwürs (bekannter zu seyn als Philoktet. Ich lese also anstatt claudicantem, Philoctetem oder halte wenigstens dafür, daß das lettere durch das erstere gleichlautende Wort verdrungen worden, und man beides zusammen Philoctetem claudicantem lesen müsse. Sophokles läßt ihn 51ßov xar' ávaɣnav ¿qñɛiv, und es mußte ein Hinken verursachen, daß er auf dem kranken Fuß weniger herzhaft auftreten konnte.

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mehr müssen wir zu sehen glauben. In dem ganzen Verfolge eines Affects ist aber kein Augenblick, der diesen Vortheil weniger hat, als aber fer die höchste Staffel desselben. Ueber ihr ist weiter nichts, und dem Auge das Aeußerste zeigen, heißt der Phantasie die Flügel binden, und sie nöthigen, da sie über den sinnlichen en Eindruck nicht hinaus tann, sich unter ihm mit schwächern Bildern zu beschäftigen, über die sie die sichtbare Fülle des Ausdrucks als ihre Gränze scheuet. Wenn Laokoon also seufzet, so kann ihn die Einbildungskraft schreien hören; wenn er aber schreit, so kan kann sie von dieser Vorstellung weder eine Stufe höher, noch eine Stufe tiefer steigen, ohne ihn in einem leid= lichern, to folglich uninteressantern Zustande zu erblicken. Sie hört ihn erst ächzen, oder sie sieht ihn schon todt.

Ferner. Erhält dieser einzige Augenblick durch die Kunst eine unveränderliche Dauer, so muß er nichts ausdrücken, was sich nicht anders als transitorisch denken läßt. Alle Erscheinungen, zu deren Wesen wir es nach unsern Begriffen rechnen, daß sie plötzlich ausbrechen und plözlich verschwinden, daß sie das, was sie sind,

nur

einen Augenblick seyn können; alle solche Erscheinerlängerung der

malen mode is

sie mögen angenehm oder schredlich seyn, erhalten durch die Verlängerung der Kunst ein so widernatürliches Ansehen, daß mit jeder wiederholten Erblickung der Eindruck schwächer wird, und uns endlich vor dem ganzen Gegenstande eckelt oder graut. La Mettrie, der sich als einen zweiten Demokrit und stechen lassen, lacht nur die erstenmale, die man ihn sieht. ihn öfter, und er wird aus einem Philosophen ein Gect, aus seinem Lachen wird ein Grinsen. So auch mit dem Schreien. Der heftige Schmerz, welcher das Schreien auspreßt, läßt entweder bald nach, oder zerstört das leidende Subject. Wenn also auch der geduldigste standhafteste Mann schreit, so schreit er doch nicht unabläßlich). Und nur dieses scheinbare Unabläßliche in der materiellen Nachahmung der Kunst ist es,, was sein Schreien zu weibischem Unvermögen, zu tindischer Unleiblichkeit machen, würde. Dieses wenigstens mußte der Künstler des Laofoons vermeiden, hätte schon das Schreien der Schönheit nicht geschadet, wäre es auch seiner Kunst schon erlaubt gewesen, Leiden ohne Schönheit auszudrücken.

Unter den alten Malern scheint Timomachus Vorwürfe des äußersten Lessing, Laokoon.

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Affects am liebsten gewählt zu haben. Sein rasender Ajar, seine Kindermörderin Medea, waren berühmte Gemälde. Aber aus den Beschreibungen, die wir von ihnen haben, erhellt, daß er jenen Punct, in welchem der Betrachter das Aeußerste nicht sowohl erblickt, als hinzu denkt, jene Erscheinung, mit der wir den Begriff des, Transitorischen nicht so nothwendig verbinden, daß uns die Verlängerung derselben in der Kunst mißfallen sollte, vortrefflich verstanden und mit einander zu verbinden gewüßt hat. Die Medea hatte er nicht in dem Augenblicke genommen, in welchem sie ihre Kinder wirklich ermordet; sondern einige Augenblicke zuvor, da die mütterliche Liebe noch mit der Eifersucht kämpft. Wir sehen das Ende dieses Kampfes trembla voraus. Wir zittern voraus, nun bald bloß die grausame Medea zu erblicken, und unsere Einbildungskraft geht weit über alles hinweg, was uns der Maler in diesem schrecklichen Augenblicke zeigen könnte. Aber eben darum beleidigt uns die in der Kunst fortdauernde Unent< schlossenheit der Medea so wenig, daß wir vielmehr wünschen, es wäre in der Natur selbst dabei geblieben, der Streit der Leidenschaften hätte sich nie entschieden, oder hätte wenigstens so lange angehalten, bis Zeit und Ueberlegung die Wuth entkräften und den mütterlichen Empfindungen den Sieg versichern können. Auch hat dem Timomachus diese seine Weisheit große und häufige Lobsprüche zugezogen, und ihn weit über einen andern unbekannten Maler erhoben, der unverständig genug gewesen war, die Medea in ihrer höchsten Raserei zu zeigen, und so diesem flüchtig überhingehenden Grade der äußersten Raserei eine Dauer zu geben, die alle Natur empört. Der Dichter, 1 der ihn deßfalls tadelt, sagt daher sehr sinnreich, indem er das Bild selbst anredet: Durstest du denn beständig nach dem Blute deiner „Kinder? Ist denn immer ein neuer Jason, immer eine neue Creusa da, die dich unaufhörlich erbittern? - Zum Henker mit dir auch im Gemälde!" seßt er voller Verdruß hinzu.

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Von dem rasenden Ajar des Timomachus läßt sich aus der NachPhilippus (Anthol. lib. IV. cap. 9. ep. 10).

Διει γαρ διψας βρεφεων φονον· ἡ τις Ἰησων

Δεύτερος, η Γλαυκη τις παλι σοι προφασις;
Ἐῤῥε και ἐν κηρῳ παιδοκτονε

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1

richt des Philostrafs urtheilen. Ajar erschien nicht wie er unter den Heerden wüthet, und Rinder und Böcke für Menschen fesselt und mordet. Sondern der Meister zeigte ihn, wie, er nach diesen wahnwißigen Heldenthaten ermattet dasigt, und den Anschlag fast, sich selbst umzubringen. Und das ist wirklich der rasende Ajar; nicht weil er eben jezt raset, sondern weil man sieht, daß er geraset hat; weil man die Größe seiner Raserei am lebhaftesten aus der verzweiflungsvollen Scham abnimmt, die er nun selbst darüber empfindet. Man sieht den Sturm in den Trümmern und Leichen, die er an das Land geworfen.

IV.

Ich übersehe die angeführten Ursachen, warum der Meister des Laokoon in dem Ausdrucke des körperlichen Schmerzes Maaß halten müssen, und finde, daß sie allesammt von der eigenen Beschaffenheit der Kunst, und von derselben nothwendigen Schranken und Bedürf nissen hergenommen sind. Schwerlich dürfte sich also wohl irgend eine derselben auf die Poesie anwenden lassen.

Ohne hier zu untersuchen, wie weit es dem Dichter gelingen kann, törperliche Schönheit zu schildern, so ist so viel unstreitig, daß, da das ganze unermeßliche Reich der Vollkommenheit seiner Nachahmung offen steht, diese sichtbare Hülle, unter welcher Vollkommenheit zu Schönheit wird, nur eines von den geringsten Mitteln seyn kann, durch die er uns für seine Personen zu interessiren weiß. Oft vernach lässigt er dieses Mittel gänzlich, versichert, daß, wenn sein Held unsere Gewogenheit gewonnen, uns dessen edlere Eigenschaften entweder so beschäftigen, daß wir an die körperliche Gestalt gar nicht denken, oder, wenn wir daran denken, uns so bestechen, daß wir ihm von selbst wo nicht eine schöne, doch eine gleichgültige ertheilen. Am wenigsten wird er bei jedem einzelnen Zuge, der nicht ausdrücklich für das Gesicht bestimmt ist, seine Rücksicht dennoch auf diesen Sinn nehmen dürfen. Wenn Virgils Laokoon schreit, wem fällt es dabei ein, daß ein großes Maul zum Schreien nöthig ist, und daß dieses große Maul häßlich läßt? Genug, daß clamores horrendos ad sidera tollit ein erhabener Zug für das Gehör ist, mag er doch für das Gesicht seyn, Vita Apoll. lib. II. cap. 22.

was er will. Wer hier ein schönes Bild verlangt, auf den hat der Dichter seinen ganzen Eindruck verfehlt.

Nichts nöthigt hiernächst den Dichter sein Gemälde in einen einzigen Augenblick zu concentriren. Er nimmt jede seiner Handlungen, wenn er will, bei ihrem Ursprunge auf, und führt sie durch alle möglichen Abänderungen bis zu ihrer Endschaft. Jede dieser Abänderungen, die dem Künstler ein ganzes besonderes Stück kosten würde, kostet ihm einen einzigen Zug; und würde dieser Zug für sich betrachtet die Einbildung des Zuhörers beleidigen, so war er entweder durch das Vorhergehende so vorbereitet, oder wird durch das Folgende so gemildert und vergütet, daß er seinen einzelnen Eindruck verliert und in der Verbindung die trefflichste Wirkung von der Welt thut. Wäre es also auch wirklich einem Manne unanständig, in der Heftigkeit des Schmerzes zu schreien; was kann diese kleine üherhingehende Unanständigkeit demjenigen bei uns für Nachtheil bringen, dessen andere Tugenden uns schon für ihn eingenommen haben? Virgils Laokoon schreit, aber dieser schreiende Laokoon ist eben derjenige, den wir bereits als den vorsichtigsten Patrioten, als den wärmsten Vater kennen und lieben. Wir beziehen sein Schreien nicht auf seinen Charakter, sondern lediglich auf sein unerträgliches Leiden. Dieses allein hören wir in seinem Schreien, und der Dichter konnte es uns durch dieses Schreien allein sinnlich machen.

Wer tadelt ihn also noch? Wer muß nicht vielmehr bekennen: wenn der Künstler wohl that, daß er den Laokoon nicht schreien ließ, so that der Dichter eben so wohl, daß er ihn schreien ließ?

Aber Virgil ist hier bloß ein erzählender Dichter. Wird in seiner Rechtfertigung auch der dramatische Dichter mit begriffen seyn? Einen andern Eindruck macht die Erzählung von jemands Geschrei: einen andern dieses Geschrei selbst. Das Drama, welches für die lebendige Malerei des Schauspielers bestimmt ist, dürfte vielleicht eben deßwegen sich an die Geseze der materiellen Malerei strenger halten müssen. In ihm glauben wir nicht bloß einen schreienden Philoktet zu sehen und zu hören; wir hören und sehen wirklich schreien. Je näher der Schauspieler der Natur kommt, desto empfindlicher müssen unsere Augen und Ohren beleidigt werden; denn es ist unwidersprechlich, daß sie es

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