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3. Nach der Wirkung des Ganzen betrachte man die einzelnen Scenen, in welchen Philoftet nicht mehr der verlassene Kranke ist; wo er Hoffnung hat, nun bald die trostlose Einöde zu verlassen und wieder in sein Reich zu gelangen; wo sich also sein ganzes Unglück auf die schmerzliche Wunde einschränkt. Er wimmert, er schreit, #F békommt die gräßlichsten Zudungen. Hierwider geht eigentlich der Einwurf des beleidigten Anstandes. Es ist ein Engländer, welcher diesen Einwurf macht; ein Mann also, bei welchem man nicht leicht eine falsche Delicatesse argwohnen darf. Wie schon berührt, so giebt er ihm auch einen sehr guten Grund. Alle Empfindungen und Leidenschaften, sagt er, mit welchen andere nur sehr wenig sympathisiren können, werden anstößig, wenn man sie zu heftig ausdrückt. „Aus diesem Grunde ist nichts unanständiger und einem Manne unwür„diger, als wenn er den Schmerz, auch den allerheftigsten, nicht mit ,,Geduld ertragen kann, sondern weint und schreit. Zwar giebt es eine Sympathie mit dem körperlichen Schmerze. Wenn wir sehen, „daß jemand einen Schlag auf den Arm oder das Schienbein bekommen soll, so fahren wir natürlicherweise zusammen, und ziehen unsern „eigenen Arm oder Schienbein zurück; und wenn der Schlag wirklich geschieht, so empfinden wir ihn gewissermaßen eben sowohl, als der, „den er getroffen. Gleichwohl aber ist es gewiß, daß das Uebel, wel= ches wir fühlen, gar nicht beträchtlich ist; wenn der Geschlagene ,,daher ein heftiges Geschrei erregt, so ermangeln wir nicht, ihn zu „verachten, weil wir in der Verfassung nicht sind, eben so heftig schreien zu können, als er." Nichts ist betrüglicher als allgemeine Geseze für unsere Empfindungen. Ihr Gewebe ist so fein und verwickelt, daß es auch der behutsamsten Spekulation kaum möglich ist, einen einzelnen Faden rein aufzufassen und durch alle Kreuzfäden zu verfolgen. Gelingt es ihr aber auch schon, was für Nußen hat es? Es giebt in der Natur keine einzelne reine Empfindung; mit einer jeden entstehen tausend andere zugleich, deren geringste die Grundempfindung gänzlich verändert, so daß Ausnahmen über Ausnahmen erwachsen, die das vermeintlich allgemeine Gesez endlich selbst auf

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1 The Theory of Moral Sentiments, by Adam Smith. Part. I. sect. 2. chap. 1. p. 41. (London 1761.)

eine bloße Erfahrung in wenig einzelnen Fällen einschränken. Wir verachten denjenigen, sagt der Engländer, den wir unter körperlichen Schmerzen heftig schreien hören. Aber nicht immer, nicht zum erstenmale; nicht, wenn wir sehen, daß der Leidende alles mögliche anwendet, seinen Schmerz zu verbeißen; nicht, wenn wir ihn sonst als einen Mann von Standhaftigkeit kennen; noch weniger, wenn wir ihn selbst unter dem Leiden Proben von seiner Standhaftigkeit ablegen sehen, wenn wir sehen, daß ihn der Schmerz zwar zum Schreien, aber auch zu weiter nichts zwingen kann, daß er sich lieber der längern Fortdauer dieses Schmerzes unterwirst, als das geringste in seis ner Denkungsart, in seinen Entschlüssen ändert, ob er schon in dieser Veränderung die gänzliche Endschaft seines Schmerzes hoffen darf. Das alles findet sich bei dem Philoktet. Die moralische Größe bestand bei den alten Griechen in einer eben so unveränderlichen Liebe gegen seine Freunde, als unwandelbarem Hasse gegen seine Feinde. Diese Größe behält Philoftet bei allen seinen Martern. Sein Schmerz hat seine Augen nicht so vertrocknet, daß sie ihm keine Thränen über das Schicksal seiner alten Freunde gewähren könnten. Sein Schmerz hat ihn so mürbe nicht gemacht, daß er, um ihn los zu werden, seinen Feinden vergeben, und sich gern zu allen ihren eigennüßigen Absichten brauchen lassen möchte. Und diesen Felsen von einem Manne hätten die Athenienser verachten sollen, weil die Wellen, die ihn nicht erschüttern können, ihn wenigstens ertönen machen? Ich bekenne, daß ich an der Philosophie des Cicero überhaupt wenig Geschmack finde; am allerwenigsten aber an der, die er in dem zweiten Buche seiner Tusculanischen Fragen über die Erduldung des körperlichen Schmerzes austramt. Man sollte glauben, er wolle einen Gladiator abrichten, so sehr eifert er wider den äußerlichen Ausdruck des Schmerzes. In diesem scheint er allein die Ungeduld zu finden, ohne zu überlegen, daß er oft nichts weniger als freiwillig ist, die wahre Tapferkeit aber sich nur in freiwilligen Handlungen zeigen kann. Er hört bei dem Sophokles den Philoktet nur klagen und schreien, und übersieht sein übriges standhaftes Betragen gänzlich. Wo hätte er auch sonst die Gelegenheit zu seinem rhetorischen Ausfalle wider die Dichter herge nommen? „Sie sollen uns weichlich machen, weil sie die tapfersteu

Männer klagend einführen." Sie müssen sie klagen lassen; denn ein Theater ist keine Arena. Dem verdammten oder feilen Fechter kam es zu, alles mit Anstand zu thun und zu leiden. Von ihm mußte kein kläglicher Laut gehört, keine schmerzliche Zuckung erblickt werden. Denn da seine Wunden, sein Tod die Zuschauer ergößen sollten: so mußte die Kunst alles Gefühl verbergen lehren. Die geringste Aeußerung desselben hätte Mitleiden erweckt; und öfters erregtes Mitleiden würde diesen frostig grausamen Schauspielen bald ein Ende gemacht haben. Was aber hier nicht erregt werden sollte, ist die einzige Absicht der tragischen Bühne, und fordert daher ein gerade entgegengeseztes Betragen. Ihre Helden müssen Gefühl zeigen, müssen ihre Schmerzen äußern, und die bloße Natur in sich wirken lassen. Ver rathen sie Abrichtung und Zwang, so lassen sie unser Herz kalt, und Klopffechter im Cothurne können höchstens nur bewundert werden. Diese Benennung verdienen alle Personen der sogenannten Seneca' schen Tragödien, und ich bin der festen Meinung, daß die gladiato= rischen Spiele die vornehmste Ursache gewesen, warum die Römer in dem Tragischen noch so weit unter dem Mittelmäßigen geblieben And. Die Zuschauer lernten in dem blutigen Amphitheater alle Natur verkennen, wo allenfalls ein Ktesias seine Kunst studiren konnte, aber nimmermehr ein Sophokles. Das tragischste Genie, an diese künftlichen Todesscenen gewöhnt, mußte auf Bombast und Rodomontaden verfallen. Aber so wenig als solche Rodomontaden wahren Heldenmuth einflößen können, eben so wenig können Philoktetische Klagen weichlich machen. Die Klagen sind eines Menschen, aber die Handlungen eines Helden. Beide machen den menschlichen Helden, der we der weichlich noch verhärtet ist, sondern bald dieses bald jenes scheint, so wie ihn jest Natur, jezt Grundsäße und Pflicht verlangen. Er ist das Höchste, was die Weisheit hervorbringen und die Kunst nachahmen kann.

4. Nicht genug, daß Sophokles seinen empfindlichen Philoktet vor der Verachtung gesichert hat; er hat auch allem andern weislich vorgebaut, was man sonst aus der Anmerkung des Engländers wider ihn erinnern könnte. Denn verachten wir schon denjenigen nicht immer, der bei körperlichen Schmerzen schreit, so ist doch dieses unwidersprech

lich, daß wir nicht so viel Mitleiden für ihn empfinden, als dieses Geschrei zu erfordern scheint. Wie sollen sich also diejenigen verhal ten, die mit dem schreienden Philoftet zu thun haben? Sollen sie sich. in einem hohen Grade gerührt stellen? Es ist wider die Natur. Sollen sie sich so kalt und verlegen bezeigen, als man wirklich bei dergleichen Fällen zu seyn pflegt? Das würde die widrigste Dissonanz für den Zuschauer hervorbringen. Aber, wie gesagt, auch diesem hat Sophokles vorgebaut. Dadurch nämlich, daß die Nebenpersonen ihr eigenes Interesse haben; daß der Eindruck, welchen das Schreien des Philoftet auf sie macht, nicht das einzige ist, was sie beschäftigt, und der Zuschauer daher nicht sowohl auf die Disproportion ihres Mitleids mit diesem Geschrei, als vielmehr auf die Veränderung Acht giebt, die in ihren eigenen Gesinnungen und Anschlägen durch das Mitleid, es sey so schwach oder so stark es will, entsteht oder entstehen sollte. Neoptolem und der Chor haben den unglücklichen Philoktet hintergangen; sie erkennen, in welche Verzweiflung ihn ihr Betrug stürzen werde; nun bekommt er seinen schrecklichen Zufall vor ihren Augen; kann dieser Zufall keine merkliche sympathetische Empfindung in ihnen erregen, so kann er sie doch antreiben, in sich zu gehen, gegen so viel Elend Achtung zu haben, und es durch Verrätherei nicht häufen zu wollen. Dieses erwartet der Zuschauer, und seine Erwartung findet sich von dem edelmüthigen Neoptolem nicht getäuscht. Philoftet, seiner Schmerzen Meister, würde den Neoptolem bei seiner Verstellung erhalten haben. Philoftet, den sein Schmerz aller Verstellung unfähig macht, so höchst nöthig sie ihm auch scheint, damit seinen künftigen Reisegefährten das Versprechen, ihn mit sich zu nehmen, nicht zu bald gereue; Philoftet, der ganz Natur ist, bringt auch den Neoptolem zu seiner Natur wieder zurück. Diese Umkehr ist vortrefflich, und um so viel rührender, da sie von der bloßen Menschlichkeit bewirkt wird. Bei dem Franzosen haben wiederum die schönen Augen ihren Theil daran. 1 Doch ich will an diese Parodie, nicht mehr denken. - Des nämlichen Kunstgriffs, mit dem Mitleiden, welches das Geschrei über körperliche Schmerzen hervorbringen sollte, in den UmAct. II. Sc. III. De mes déguisemens que penserait Sophie? Sagt der Sohn des Achilles.

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stehenden einen andern Affect zu verbinden, hat sich Sophokles auch in den Trachinerinnen bedient. Der Schmerz des Herkules ist kein ermattender Schmerz; er treibt ihn bis zur Raserei, in der er nach nichts als nach Rache schnaubt. Schon hatte er in dieser Wuth den Lichas ergriffen und an dem Felsen zerschmettert. Der Chor ist weiblich; um so viel natürlicher muß sich Furcht und Entseßen seiner bemeistern. Dieses, und die Erwartung, ob noch ein Gott dem Herkules zu Hülfe eilen, oder Herkules unter diesem Uebel erliegen werde, macht hier das eigentliche allgemeine Interesse, welches von dem Mitleiden nur eine geringe Schattirung erhält. Sobald der Ausgang durch die Zusammenhaltung der Orakel entschieden ist, wird Herkules ruhig, und die Bewunderung über seinen legten Entschluß tritt an die Stelle aller andern Empfindungen. Ueberhaupt aber muß man bei der Verglei chung des leidenden Herkules mit dem leidenden Philoktet nicht vergessen, daß jener ein Halbgott und dieser nur ein Mensch ist. Der Mensch schämt sich seiner Klagen nie; aber der Halbgott schämt sich, daß sein sterblicher Theil über den unsterblichen so viel vermocht habe, daß er wie ein Mädchen weinen und winseln müssen. 1 Wir Neuern glauben keine Halbgötter, aber der geringste Held soll bei uns wie ein Halbgott empfinden und handeln.

Ob der Schauspieler das Geschrei und die Verzuckungen des Schmerzes bis zur Illusion bringen könne, will ich weder zu verneinen noch zu bejahen wagen. Wenn ich fände, daß es unsere Schauspieler nicht könnten, so müßte ich erst wiffen, ob es auch ein Garrik nicht vermögend wäre; und wenn es auch diesem nicht gelänge, so würde ich mir noch immer die Skävopoeie und Deklamation der Alten in einer Vollkommenheit denken dürfen, von der wir heut zu Tage gar keinen Begriff haben.

V.

Es giebt Kenner des Alterthums, welche die Gruppe Laokoon zwar für ein Werk griechischer Meister, aber aus der Zeit der Kaiser halten, weil sie glauben, daß der Virgilische Laokoon dabei zum Vor

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